Donnerstag, 17. Mai 2018

Von der Organisationsfunktion zur Kompetenz

Controlling ist seit einigen Jahrzehnten organisatorisch fest in den Unternehmensstrukturen verankert. Die Rolle, Funktion und das operative Instrumentarium variieren mit der jeweiligen Organisationsform und den Mechanismen der Wertschöpfung - die Grundlagen des Handelns sind aber robust.

Die Zusammenfassung der Aufgaben in einer eigenen, dem Management sehr nahe stehenden Abteilung ist die Regel. Hier wird das System definiert, welches für die Beschaffung von Zahlen, Daten und Fakten aus den produktiven Organisationseinheiten sorgt und diese nach geeigneter Aufbereitung und Aggregation dem Management als Zustandsinformationen zur Steuerung des Unternehmens zur Verfügung stellt. Es unterstützt das Management in der Zielfindung, Planung und Risikoabwägung. Getragen wird das Handeln von dem Selbstbewusstsein, das betriebswirtschaftliche Gewissen des Unternehmens darzustellen.

Dieser Zustand der Stabilität wird in den letzten Jahren punktuell gestört. Gerade in den innovativsten Unternehmen mit intensiver Produktentwicklung werden die Herstellungsprozesse zunehmend nach agilen Vorgehensmodellen ausgerichtet. Größter Treiber dieses Trends ist die Softwareentwicklungsbranche.

Nur die Spitze des Eisbergs

Die Herausforderung für das Controlling in der agilen Softwareentwicklung ist vielfältig. Planänderungen (auch kurzfristige) sind Teil des Vorgehensmodells. Die Klärung dessen, was Ergebnis eines Projekts ist, ist Teil des Projekts selbst. Die Steuerungsmechanismen sind neu, da die Verlagerung von Verantwortung in die Entwicklungsteams eine Abkehr von klassischen „command and control“-Strukturen nach sich zieht. Mögliche Lösungsansätze für diese Situation zielen darauf ab, eine Mediationsschicht zwischen der agilen Organisation und dem Unternehmensumfeld zu bilden, die die Ergebnisse der Entwicklungsorganisation in zentral interpretierbare KPIs übersetzt - sofern dies möglich ist.

Welchen Ansatz man auch bemüht - die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, dass die geschaffenen Schnittstellen nicht friktionsfrei sind. Der Begehr des klassisch operierenden Controllings nach langfristiger, robuster Planbarkeit erzeugt Spannungen in der Wechselwirkung mit der Softwareentwicklungsorganisation, die häufig aufgrund der internen Machtverhältnisse zur Auflösung der agilen Ansätze führen.

Mittlerweile erlebt man jedoch häufiger die gegenläufige Entwicklung: die agilen Managementprinzipien finden über die Softwareentwicklungsorganisation hinaus Anklang und erste Umsetzung - auch in anderen Kontexten als der Softwareentwicklung allein. Abschottungsstrategien sind damit nicht mehr möglich. Das etablierte Controlling muss sich der Herausforderung in neuer Weise stellen.

Das Menschenbild macht den Unterschied

Das moderne Controlling erkennt durchaus Organisationsform und Unternehmenskultur als Variablen an, die in der Bildung eines wirksamen Controlling-Systems Berücksichtigung finden müssen. Hier gibt es vielfältige Ansätze unterschiedlichen Szenarien gerecht zu werden, ohne dass Grundprinzipien in Frage gestellt werden müssten.

Es gibt jedoch eine immanente Größe, die unabhängig dieser Variablen fundamentbildend für die Ausprägung des heutigen Controllings wirkt: der Mensch - insbesondere der Manager - wird als sich stets bemühendes, aber letztlich nur begrenzt zu rationalem Denken befähigtes Individuum begriffen. Um ihn muss ein ausgefeiltes System der Fremdkontrolle aufgebaut werden, welches den Manager in seinen Entscheidungen mal unterstützt, mal reflektiert und ggf. sogar eingrenzt. Es fehlt an Vertrauen.

In agil geführten Organisationen ist dies anders: das Vertrauen in die einzelnen Mitarbeiter wird bewusst gestärkt und ihnen werden Entscheidungskompetenzen eingeräumt. Paradoxerweise wird hier dem Mitarbeiter mehr Vertrauen geschenkt als dies in der klassischen Controlling-Theorie gegenüber dem Management geschieht. Der Mensch wird als potenziell unternehmerisch und wirtschaftlich sinnvoll handelnd betrachtet - sowohl der Mitarbeiter als auch der Manager.

Von der Organisationsfunktion zur Kompetenz

Die Dimension der Veränderung durch dieses neue Menschenbild im Hinblick auf die heute üblichen Controlling-Strukturen ist fundamental. Mit dem Bild eines mündig handelnden Managers und Mitarbeiters vor Augen entwickelt sich Controlling von einer Organisationsfunktion eher zu einer Kompetenz, die im Unternehmen in der Breite vermittelt werden muss.

Unternehmerisches Denken und wirtschaftliches Gewissen ist kein Identifikationsmoment einer spezifischen Organisationseinheit mehr - wie dies im klassischen Controlling der Fall ist. Vielmehr handelt es sich um Eigenschaften, die die Mitarbeiter (und Manager) sich aneignen müssen. 

Eine Herausforderung für alle

Welche - ursprünglich dem Controlling zugeordneten - Kompetenzen gehen auf Mitarbeiter und Manager über? Jeder Verantwortung tragende Kollege muss in die Lage versetzt werden, das Gesamtsystem in seinen Kennzahlen zu verstehen, daraus Schlüsse zu ziehen und Konsequenzen umzusetzen. Mit steigender Managementebene ist der Blick auf diese Informationen zwangsläufig globaler - aber auch diese Perspektiven dürfen dem einfachen Mitarbeiter nicht verwehrt werden. Wissensmonopole jeglicher Art sind aufzulösen und alle sind zu befähigen, das Wissen auch richtig einordnen und verarbeiten zu können. Die Mitarbeiter tragen speziell in ihrem unmittelbaren Wirkungskreis - aber auch im Hinblick auf das Gesamtsystem - die Verantwortung für die Beibringung korrekter Informationen, deren Zusammenführung allen zur Steuerung dient. 

Was als dedizierte Controlling-Rolle bleibt sind dann Aufgaben wie Coaching und Training, Hilfestellung bei der Informationsaggregation und Kommunikation in die breite Unternehmensöffentlichkeit - mit dem Ziel der Befähigung einer Vielzahl von Mitarbeitern zu sinnvollem, wirtschaftlichen Handeln. Die Rolle des "Management-Beraters" entfällt weitestgehend - die Zielgruppe der Beratung wird vielmehr deutlich verbreitert. Koordinationsaufgaben - insbesondere bei der übergeordneten Unternehmensplanung - können wie zuvor bei einer Controlling-Rolle sinnvoll verortet werden.

Neben Prozessorientierung, Zahlenaffinität und wirtschaftlichen Kenntnissen werden nun in gleicher Gewichtung die Fähigkeit zur Wissensvermittlung, Empathie und Konfliktlösungskompetenzen vom Controller erwartet.

Die Herausbildung einer agil geführten Organisation bedeutet so letztlich für ein Controlling kein Bedeutungsverlust, wenn es der Entwicklung folgt. Tatsächlich sind die neuen Aufgaben, die es erwartet, anspruchsvoller als zuvor.