Donnerstag, 8. September 2016

Digitalisierung und warum wir darüber sprechen ...

Man muss kein sonderlich aufmerksamer Leser der Tagespresse sein, um seit ca. zwei Jahren sowohl im politischen, gesellschaftlichen als auch unternehmerischen Kontexten regelmäßig auf das beschworene Phänomen der "Digitalisierung" zu stoßen. Aufmerksam muss man allerdings gewesen sein, um zu bemerken, dass das Jahr 2015 seitens der Bundesregierung zum "Jahr der Digitalisierung" berufen wurde. Angesichts drängenderer Themen gerieten hieraus resultierende, mögliche Aktivitäten und Maßnahmen verständlicherweise ins Hintertreffen.

Gemeint ist mit der Kurzform "Digitalisierung" die Subsummierung aller Phänomene, die in Korrelation mit der Einführung computergestützter Technologien stehen: vom Smartphone über die 3d-Brille bis zum Roboter. Hierbei reicht die Spannweite der Betrachtungen von der Analyse gesellschaftlicher Veränderungen bis hin zu der Frage, wie unsere individuellen Denkprozesse durch die Nutzung moderner Informationstechnologie beeinflusst werden.

Die grundsätzliche Fragestellung ist ja an und für sich nichts Neues. Die Technologieentwicklung erzielt seit nunmehr 30 Jahren Breitenwirkung. Warum gerät das Thema gerade jetzt so in den gesellschaftlichen und politischen Fokus?   

Der mögliche Grund hierfür mag darin liegen, dass wir in eine neue Entwicklungsphase eingetreten sind. Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass IT-gestützte Dienste vermehrt beginnen in offensiver Form bestehende Märkte und ihre großen Mitspieler wenigstens spürbar zu bedrängen, wenn nicht sogar in ihrer Existenz zu gefährden. Dies grenzt sich deutlich von dem noch anhaltenden, vertrauten Veränderungsprozessen ab, im Rahmen derer Informationstechnologie maßgeblich neue Märkte eröffnete, bestehende durch effizientere Prozessabbildungen veränderte und ggf. die Verdrängung kleinerer oder bereits angeschlagener Marktteilnehmer bewirkte. Nun geraten jedoch größere Unternehmen oder ganze Branchen, die eigentlich über effiziente Lobbyorganisationen verfügen, unter Druck. 

So ergeben sich Szenarien, in denen bestehender Bedarf  durch IT-gestützte Dienste in völlig neuer Weise gedeckt wird. Die gewählten Ansätze  der neuen Marktteilnehmer bewirken eine nachhaltige Veränderung der Wertschöpfungskette, wodurch die bestehenden Anbieter der Leistung von der Teilhabe am Markt aus strukturellen Gründen und Kostengründen faktisch ausgegrenzt werden. Uber im Transport- und airbnb im Hotelwesen stellen hierfür geeignete Beispiele dar: ihre Leistung besteht darin, die Dienstleistungserbingung zu sozialisieren und die Markteintrittshürde für den Einzelnen zu marginalisieren. Dies hat fatale Folgen für die bestehenden Marktteilnehmer: wie will sich ein Taxiunternehmen gegen dutzende, private Gelegenheitsfahrer zur Wehr setzen?

In einem anderen - weniger disruptiven - Szenario geht es  nicht mehr um IT-Nutzung zur Prozessoptimierung oder als Basis eigenständiger, neuer Geschäftsmodelle. Es zeichnet sich vielmehr ab, dass bekannte, zunächst IT-fern erscheinende Produktwelten durch eine intelligente IT-Nutzung neue Wertigkeit erlangen.  Die Leistung wird sozusagen hybrid: ein Produkt aus der klassischen Welt wird durch IT-Leistungen veredelt - so weit, dass die durch IT-Leistung getragenen Eigenschaften für den Verbraucher zunehmend die Wertigkeit des Produkts definieren.
Ein Beispiel hierfür: Sowohl google als auch Apple liebäugeln mit dem Bau eigener Automobile. Wann erreichen wir den Punkt, wo ein Auto maßgeblicher aus Software denn aus solider Mechanik besteht?  Beide Firmen sind extrem starke Marken, die bei einer solchen Entwicklung die Kraft haben die bekannten Automobilhersteller zu schlichten Zulieferern zu degradieren. 

Letztlich erleben wir neuerdings auch, dass in der Informationstechnologie und im Dienstleistungssegment tief verankerte und nachhaltig erfolgreiche Unternehmen (die gab es lange Zeit nicht ...) ihr Geschäftsmodell ausdehnen und so tradierte Geschäftsmodelle angreifen. 
Als Beispiel kann hier Amazon dienen. Das Unternehmen  baut aktuell sein Logistiknetz aus und übernimmt damit zukünftig in weiten Teilen selbst die Zustellungen aus dem eigenen Versandhandel. Dies ist an sich bereits ein spürbarer Effekt für das inländische Paketgeschäft der Post. Zunächst optimiert Amazon damit nur ihre Wertschöpfung. Im Folgeschritt liegt es für einen erfahrenen Plattformbetreiber wie Amazon nahe, das Logistiknetz auch als eigenes Produkt für Dritte zu öffnen. Wie das funktioniert, wurde bereits in der Vergangenheit durch die Öffnung der Amazon Rechenzentren in Form von an Cloud-Angeboten gezeigt. Was so für Amazon nur eine intelligent genutzte Teilleistung in der eigenen Herstellungskette ist, entwickelt sich für die Post zu einem ernstzunehmenden Wettbewerbsangebot.

Die Platzhirsche der "alten" Geschäftsmodelle haben in allen geschilderten Szenarien große Schwierigkeiten auf diesen externen Druck angemessen zu reagieren: es fehlt an nötigem IT-Know-How ebenso wie an einer geeigneten Unternehmenskultur, um den in der IT-Branche üblichen, rasanten Veränderungsprozessen stand halten zu können. 
So werden die Risikoszenarien zwar häufig hinreichend frühzeitig erkannt und durchaus wirksame Maßnahmen definiert. Die Umsetzung derer wird jedoch in den etablierten Unternehmensstrukturen erfolgreich boykottiert: IT als wirksamer Bestandteil des Geschäftsmodell mit einer Repräsentationskraft bis in die oberste Führungsebene erzeugt neue Strukturen und gefährdet so bestehende Pfründe und erweckt Neid. Darüber hinaus stellen abweichende Arbeitsweisen und Haltungen die gewohnten Steuerungsmechanismen querschnittlich wirkender Abteilungen in Frage. Nur wenigen kann man zutrauen, diesen Wandel erfolgreich zu meistern - und alle anderen werden mit einem schwierigen Schicksal, beginnend bei Bedeutungsschwund und endend bei Totalverlust leben müssen.

Die Politik weiß hier wenig beizutragen. Neulich durfte ich ein Interview mit Hannelore Kraft verfolgen, in der sie auswies, dass Nordrhein-Westfalen das erste Bundesland mit einer Digitalisierungsstrategie sei. Zum Inhalt wurde jedoch nur gesagt, dass man einen Plan habe, die breitbandige Internetversorgung der Bevölkerung zu verbessern. Das grundlegende Missverständnis ist offensichtlich: solche Aktivitäten sind wichtig und löblich - helfen aber im Wesentlichen denjenigen Marktteilnehmern, die Dienste anbieten, die diesen erhöhten Kapazitätsbedarf in den Privathaushalten auch erforderlich machen. Und das sind die Unternehmen, die bereits "digitalisiert" sind und die keine "Digitalisierung" mehr durchlaufen müssen.

Was ist der wahre Grund für die Aufmerksamkeit? Mein Fazit: die geringe Wandlungsfähigkeit vieler großer, deutscher Unternehmen gefährdet mittel- bis langfristig ihre Existenz. Die Politik erahnt diese Entwicklung bloß und lässt sich durch Schlagworte treiben. Die Melange aus beidem gefährdet den Wirtschaftsstandort, unseren gewohnten Wohlstand und damit letztlich die gesellschaftliche Stabilität.



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